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Gastbeitrag von Dr. Kurt Schmidinger
Nimmt man die gängigen Annahmen zur Entstehung der Pandemien der letzten Jahrzehnte als Basis, ebenso jene der aktuellen COVID-19-Pandemie, und die wissenschaftlichen Prognosen für zukünftige Pandemien, dann ist eine Parallele nicht zu übersehen: Fast alle wurden und werden durch den Verzehr von Tierprodukten oder die Haltung von Tieren für den Verzehr ausgelöst.
Auch die aktuelle COVID-19-Pandemie kam mit Ansage – in der Wissenschaft herrscht seit Jahrzehnten große Einigkeit, dass wir durch die industrielle Nutztierhaltung oder auch durch Wildtiermärkte solche Risiken provozieren.
Parallel dazu laufen wir sehenden Auges in ein zweites wahrscheinliches Fiasko für unser Gesundheitssystem: Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte 2017 eindringlich vor dem Einsatz von Antibiotika in der industriellen Nutztierhaltung und der Gefahr der Bildung von Keimen, die gegen alle Antibiotika resistent sind. Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit 70 bis 80 % der Antibiotika in der Nutztierhaltung eingesetzt werden, der kleinere Rest in der Humanmedizin. Zudem wird in der Nutztierhaltung zwischen 2010 und 2030 ein weiterer globaler Anstieg des Verbrauchs von Antibiotika von 70 % erwartet. In vielen Regionen der Welt werden Antibiotika als Wachstumsförderer eingesetzt. Die Exposition von Bakterien zu dieser permanenten Gabe von geringen Mengen an Antibiotika begünstigt Anpassungen und Resistenzen der Bakterien.
Vor fast 20 Jahren ergab eine umfassende Literaturanalyse bereits folgendes Ergebnis: Drei Viertel der neu auftauchenden Krankheitserreger, die den Menschen bedrohen, stammen aus »zoonotischen Quellen«, sprich sie werden von Tieren auf Menschen übertragen. 2009 bestätigten die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO und die Weltorganisation für Tiergesundheit OIE diese Zahl mit 70 %, aktuell gibt die FAO auf ihren Webseiten 75 % an.
Neuere Analysen zeigen: Sogenannte RNA-Viren aus dem Tierreich machen den größten Teil der neu entstehenden Krankheitserreger für Menschen aus (siehe hier).
Immer neue Wellen von Vogelgrippe sowie Schweinegrippe, Nipah-Virus, Ebola, HIV usw. haben zoonotischen Ursprung.
Die FAO hat 2008 eindringlich darauf hingewiesen, dass die Industrialisierung der Nutztierhaltung, speziell in warmen, feuchten Klimazonen, die sich durch den Klimawandel ausweiten, eine große Gefahr für neue Krankheitserreger darstellt. In Kombination mit vermehrten Transporten von Tieren und Tierprodukten, und einer vermehrten Mobilität des Menschen stellt dies eine große Gefahr für neue Pandemien dar.
Die industrielle Nutztierhaltung ist besonders gefährlich in Bezug auf die Entstehung von Influenza-Viren und anderen Krankheitserregern. Einerseits führt die Spezialisierung zu neuen Übertragungswegen, beispielsweise in der Schweinehaltung durch die Trennung in Zucht- und Mastbetriebe. Andererseits sind die hohen Besatzdichten von Geflügel oder Schweinen Faktoren, die Viren bei ihrer Entstehung fördern. Milliarden eingesperrte Tiere produzieren gigantische Mengen an Exkrementen, die große Mengen Pathogene enthalten können, und die auf Ackerflächen oder ins Grundwasser entsorgt werden. Das ist eine weitere Infektionsquelle, auch für wildlebende Tiere.
Trotz Gerede von »biosecurity« sind industrielle Tierhaltungen in der Realität komplett offen für den Ein- und Ausgang von Krankheitserregern. Einerseits kommen Tiere aus anderen Zuchtbetrieben, Brütereien oder Nutztiermärkten sowie Futter und Wasser von außen in die Betriebe. Andererseits verlassen sowohl enorme Mengen Exkremente diese Anlagen, als auch Tiere in Richtung andere Betriebe, Märkte oder Schlachthäuser. Insekten sind weitere Überträger. All das sind Routen für Krankheitserreger zu oder von industriellen Nutztierhaltungen.
Daten der OIE zeigten für Ende 2005 bis Anfang 2007, dass die Wahrscheinlichkeit für HPAI-H5N1-Ausbrüche in Geflügelbetrieben mit über 10.000 Tieren etwa vierfach höher war als in kleineren Betrieben, und dass die Übertragungswege der industriellen Tierhaltungsbetriebe komplett offen sind.
Bei all den vielfältigen Übertragungswegen wird auch klar: Wegsperren der Tiere hilft nichts. Im Gegenteil: Die hohen Besatzdichten der Tiere, der konzentrierte Anfall von Exkrementen und der in der Regel hohe Antibiotikaeinsatz machen Intensivtierhaltungen mit weggesperrten Tieren sogar besonders problematisch.
Dass der neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2 und damit die aktuelle COVID-19-Pandemie von einem Wildtiermarkt (einem sogenannten »wet market«) im chinesischen Wuhan stammt, gilt derzeit als fast gesichert. Wiederum ist die Haltung von Tieren und der Konsum von Tierprodukten die wahrscheinlichste Ursache einer Pandemie, die die Weltbevölkerung gesundheitlich und wirtschaftlich enorm belastet.
Im Zusammenhang mit Wildtieren wurden auch die Jagd und die Entwaldung in Studien untersucht und als Ursache für speziesübergreifende Übertragung von Krankheitserregern identifiziert.
Trotz der gravierenden Auswirkungen auf die globale Gesundheit und Wirtschaft und dem zunehmenden Verständnis über die Prozesse bei der Entstehung neuer Krankheitserreger sind wir nicht in der Lage, deren Charakteristiken vorherzusehen und uns auf sie vorbeugend vorzubereiten. Daher bleibt uns nur, ab sofort die Ursachen neuer Pandemien zu vermeiden.
Es gibt nur ein Fazit: Abkehr von industrieller Nutztierhaltung und Wildtiermärkten – wann, wenn nicht jetzt?
Wir sind jetzt gänzlich beschäftigt mit der Bekämpfung von COVID-19. Zeitgleich züchten wir uns bereits die nächsten Pandemien und vielleicht sogar das Ende des Antibiotika-Zeitalters heran – mit all ihren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Selbst Kinder greifen nur einmal auf die heiße Herdplatte – und wir als Gesellschaft sind wirklich lernresistent? Kein Tier muss heute mehr in Massentierhaltung vegetieren und sterben, damit wir saftige Burger und knusprige Nuggets essen können. Seit kurzem haben wir weltweit absolute Top-Produkte auf pflanzlicher Basis. In wenigen Jahren werden wir zudem sicheres Fleisch aus gezüchteten Tierzellen am Markt haben – ohne Massentierhaltung, ohne Tiertransporte, ohne Schlachthöfe und ohne Wildtiermärkte. Statt uns von Pandemie zu Pandemie zu hanteln und multiresistente Keime zu züchten, sollten wir die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts nutzen: Die endgültige Abkehr von der industriellen Nutztierhaltung und von Wildtiermärkten! Tierschutz, der Schutz von Regenwald und Weltklima sowie die Bekämpfung von Zivilisationskrankheiten sind weitere zwingende Argumente für diesen Schritt!
Dr. Kurt Schmidinger ist wissenschaftlicher Beirat der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt. Er ist Lebensmittelwissenschaftler und Geophysiker (Studium in Graz und Wien). Nach dem Studienabschluss 1995 war er einige Jahre hauptberuflich im Tierschutz tätig, zudem bis heute in der Softwareentwicklung.
Im Jahr 2005 gründete er das Projekt Future Food, das sich mit Alternativen zu Tierprodukten (Fleisch-, Milch- und Eiprodukte) beschäftigt. Future Food präsentiert einerseits die innovativsten existierenden Technologien und Top-Produkte sowie andererseits mögliche Zukunftstechnologien wie In-vitro-Fleisch. Zwischen 2009 und 2012 entstand daraus eine Dissertation, die ihn zum Doktor der Lebensmittelwissenschaften machte.
Als Geophysiker, Lebensmittelwissenschaftler und Tierschützer deckt Kurt Schmidinger die Problembereiche der weltweiten »Nutztier«-Haltung und des weltweiten Fleischkonsums sehr umfassend ab: Umwelt und Klima, Welternährung, menschliche Gesundheit und Tierschutz. Im Sommer 2012 publizierte er auch eine grundlegende Erweiterung der Klimabilanzen von Lebensmitteln.
Eine umfassende Literaturübersicht identifiziert 1415 Arten von infektiösen Organismen, von denen bekannt ist, dass sie für den Menschen pathogen sind, darunter 217 Viren und Prionen, 538 Bakterien und Rickettsien, 307 Pilze, 66 Protozoen und 287 Helminthen. Von diesen sind 868 (61%) zoonotisch, dh sie können zwischen Mensch und Tier übertragen werden, und 175 pathogene Arten sind mit Krankheiten assoziiert, die als "aufkommend" gelten. Wir testen die Hypothese, dass zoonotische Krankheitserreger eher mit neu auftretenden als mit nicht neu auftretenden Krankheiten assoziiert sind. Von den neu auftretenden Krankheitserregern sind 132 (75%) zoonotisch, und insgesamt sind zoonotische Krankheitserreger doppelt so häufig mit neu auftretenden Krankheiten assoziiert wie nicht-zoonotische Krankheitserreger. Das Ergebnis variiert jedoch zwischen den Taxa, wobei Protozoen und Viren besonders wahrscheinlich auftreten und Helminthen dies besonders unwahrscheinlich machen. unabhängig von ihrem zoonotischen Status. Es wurde kein Zusammenhang zwischen Übertragungsweg und Entstehung gefunden. Diese Studie ist die erste quantitative Analyse, die Risikofaktoren für das Auftreten menschlicher Krankheiten identifiziert.
Dies teilte die WHO bereits im Januar 2017 mit:
7. November 2017
Pressemitteilung
Die WHO empfiehlt Landwirten und der Lebensmittelindustrie, die routinemäßige Verwendung von Antibiotika einzustellen, um das Wachstum zu fördern und Krankheiten bei gesunden Tieren vorzubeugen.
Die neuen Empfehlungen der WHO sollen dazu beitragen, die Wirksamkeit von Antibiotika, die für die Humanmedizin wichtig sind, zu erhalten, indem deren unnötiger Einsatz bei Tieren verringert wird. In einigen Ländern entfallen rund 80% des Gesamtkonsums medizinisch wichtiger Antibiotika auf den Tiersektor, hauptsächlich zur Wachstumsförderung bei gesunden Tieren.
Übermäßiger Gebrauch und Missbrauch von Antibiotika bei Tieren und Menschen tragen zur zunehmenden Bedrohung durch Antibiotikaresistenzen bei. Einige Arten von Bakterien, die beim Menschen schwere Infektionen verursachen, haben bereits Resistenzen gegen die meisten oder alle verfügbaren Behandlungen entwickelt, und es gibt nur sehr wenige vielversprechende Optionen in der Forschungspipeline.
"Ein Mangel an wirksamen Antibiotika ist eine ebenso ernsthafte Sicherheitsbedrohung wie ein plötzlicher und tödlicher Krankheitsausbruch", sagt Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO. "Starke, nachhaltige Maßnahmen in allen Sektoren sind von entscheidender Bedeutung, wenn wir das Blatt der Antibiotikaresistenz zurückdrehen und die Welt schützen wollen."
Eine heute in The Lancet Planetary Health veröffentlichte systematische Übersicht ergab, dass Interventionen, die den Einsatz von Antibiotika bei Tieren, die Lebensmittel produzieren, einschränken, die Antibiotika-resistenten Bakterien bei diesen Tieren um bis zu 39% reduzierten. Diese Forschung hat die Entwicklung der neuen Leitlinien der WHO direkt beeinflusst.
Die WHO empfiehlt nachdrücklich, die Verwendung aller Klassen medizinisch wichtiger Antibiotika bei Tieren, die Lebensmittel produzieren, insgesamt zu reduzieren, einschließlich einer vollständigen Einschränkung dieser Antibiotika zur Wachstumsförderung und Prävention von Krankheiten ohne Diagnose. Gesunde Tiere sollten nur dann Antibiotika erhalten, um Krankheiten vorzubeugen, wenn dies bei anderen Tieren derselben Herde, Herde oder Fischpopulation diagnostiziert wurde.
Nach Möglichkeit sollten kranke Tiere getestet werden, um das wirksamste und umsichtigste Antibiotikum zur Behandlung ihrer spezifischen Infektion zu ermitteln. Bei Tieren verwendete Antibiotika sollten aus denjenigen ausgewählt werden, die von der WHO als „am wenigsten wichtig“ für die menschliche Gesundheit eingestuft wurden, und nicht aus denjenigen, die als „von höchster Priorität von entscheidender Bedeutung“ eingestuft wurden. Diese Antibiotika sind oft die letzte oder eine der begrenzten Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung schwerer bakterieller Infektionen beim Menschen.
"Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass ein übermäßiger Einsatz von Antibiotika bei Tieren zur Entstehung von Antibiotikaresistenzen beitragen kann", sagt Dr. Kazuaki Miyagishima, Direktor der Abteilung für Lebensmittelsicherheit und Zoonosen bei der WHO. "Das Volumen der bei Tieren verwendeten Antibiotika nimmt weltweit weiter zu, was auf die wachsende Nachfrage nach Lebensmitteln tierischen Ursprungs zurückzuführen ist, die häufig durch intensive Tierhaltung hergestellt werden."
Viele Länder haben bereits Maßnahmen ergriffen, um den Einsatz von Antibiotika bei Tieren, die Lebensmittel produzieren, zu reduzieren. Beispielsweise hat die Europäische Union seit 2006 die Verwendung von Antibiotika zur Wachstumsförderung verboten. Die Verbraucher treiben auch die Nachfrage nach Fleisch voran, das ohne routinemäßigen Einsatz von Antibiotika erzeugt wird, wobei einige große Lebensmittelketten „antibiotikafreie“ Richtlinien für ihre Fleischversorgung einführen.
Alternative Optionen zur Verwendung von Antibiotika zur Vorbeugung von Krankheiten bei Tieren sind die Verbesserung der Hygiene, die bessere Verwendung von Impfungen sowie Änderungen in der Tierhaltung und in der Haltung.
Die Leitlinien der WHO zur Verwendung medizinisch wichtiger antimikrobieller Mittel bei Tieren , die Lebensmittel produzieren, bauen auf jahrzehntelangen Expertenberichten und Bewertungen der Rolle des Einsatzes landwirtschaftlicher Antibiotika bei der zunehmenden Bedrohung durch Antibiotikaresistenzen auf. Sie tragen direkt zu den Zielen des von der Weltgesundheitsversammlung 2015 verabschiedeten globalen Aktionsplans zur Resistenz gegen antimikrobielle Mittel und der 2016 verabschiedeten Erklärung des hochrangigen Treffens der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Antibiotikaresistenz bei.
Hinweis für Redakteure:
Seit 2005 veröffentlicht die WHO eine Liste von wichtigen antimikrobiellen Mitteln für die Humanmedizin mit regelmäßigen Überarbeitungen, die als Grundlage für die Förderung ihres umsichtigen Einsatzes dienen sollen. In der Liste werden alle derzeit bei Menschen und Tieren verwendeten Antibiotika in drei Kategorien eingeteilt - "wichtig", "sehr wichtig" und "kritisch wichtig" - basierend auf ihrer Bedeutung für die Humanmedizin.
Das übergeordnete Ziel besteht darin, eine umsichtige Anwendung zu fördern, um die Antibiotikaresistenz zu verlangsamen und die Wirksamkeit der wichtigsten Antibiotika für die Medizin zu erhalten. Die heute herausgegebenen Richtlinien beziehen dieses Ziel in ihre Empfehlungen für den Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft ein.
In der 5. Überarbeitung der im April 2017 veröffentlichten Liste wurden Chinolone, Cephalosporine der dritten und höheren Generation, Makrolide und Ketolide, Glycopeptide und Polymyxine (auch als Colistin bekannt) als die Antibiotika mit der höchsten Priorität unter den kritisch wichtigen antimikrobiellen Mitteln angesehen. Diese Antibiotika sind als letzter Ausweg für multiresistente Infektionen beim Menschen unerlässlich.