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Reporter ohne Grenzen (RSF) ist äußerst besorgt über die
wiederholten Angriffe auf die Pressefreiheit in Deutschland in den vergangenen Wochen. Mehrmals wurden Journalistinnen und Journalisten unter anderem am Rande von Protesten gegen Corona-Maßnahmen und
Versammlungen zum 1. Mai attackiert. In sozialen Medien berichteten Medienschaffende von Drohungen und Einschränkungen bei der Arbeit. Mehrere Redaktionen haben laut einem Zeitungsbericht
Morddrohungen erhalten.
„Wer Journalistinnen und Journalisten angreift, greift das Grundrecht auf Pressefreiheit an. Gerade in Zeiten einer Pandemie
müssen Medienschaffende frei und ohne Angst vor Gewalt berichten können, um die Bevölkerung zu informieren und eine freie Meinungsbildung zu ermöglichen“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von
Reporter ohne Grenzen. „Wir befürchten, dass die jüngsten Angriffe Medienschaffende verunsichern und diese im Zweifel weniger von Kundgebungen berichten.“
Der jüngste Übergriff ereignete sich am Samstag in Dortmund. Dort drehten zwei WDR-Journalisten auf einer Demonstration gegen
Corona-Einschränkungen. Nach Angaben des Senders versuchte ein mutmaßlicher Rechtsextremer, einem der beiden Medienschaffenden die
Kamera aus der Hand zu schlagen. Dabei wurde ein WDR-Journalist leicht am Kopf verletzt. Die Betroffenen
haben Anzeige erstattet.
Mitte vergangener Woche wurde bei einer Demonstration gegen Corona-Beschränkungen vor dem Reichstagsgebäude in
Berlin ein ARD-Kamerateam angegriffen. Laut Berliner
Polizei soll ein Mann versucht haben, den Ton-Assistenten zu treten. Er traf demnach offenbar die Mikrofon-Angel, die gegen den Kopf des Kameramanns schlug. Gegen den
46-jährigen mutmaßlichen Täter wird nun wegen Verdacht auf Körperverletzung ermittelt.
Fünf Tage zuvor war bereits ein Kamerateam
des ZDF in Berlin
während einer Drehpause von einer Gruppe vermummter Personen brutal angegriffen worden. Das TV-Team hatte in Begleitung von drei Sicherheitsmitarbeitern für die Satire-Sendung
„Heute Show“ bei der sogenannten
„Hygiene-Demo“ am Rosa-Luxemburg-Platz gefilmt. Laut Berliner Polizei sollen die Betroffenen auch mit einer Metallstange geschlagen und getreten worden
sein. Einer von ihnen verlor bei dem Angriff das Bewusstsein, mehrere
Medienschaffende mussten im Krankenhaus behandelt werden.
Der Staatsschutz ermittelt nun wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung gegen eine Gruppe von etwa 15 Personen.
Mitglieder dieser Gruppe stehen nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft Berlin im Verdacht, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZDF „gezielt“ angegriffen zu haben. Einige Verdächtige seien demnach teilweise der linken Szene zuzurechnen. Die Aufklärung der Tat sei
„aufwändig und schwierig“, auch weil die bisherigen Zeugenaussagen nicht in allen Details ein einheitliches Bild ergäben. In einem nur einen Tag vor dem Angriff auf der verschwörungstheoretischen
Seite KenFM veröffentlichten Beitrag kündigte ein Autor offenbar den Besuch des ZDF-Kamerateams an.
Reporter ohne Grenzen ist besorgt, dass die Übergriffe andere Medienschaffende einschüchtern könnten. Einen Tag nach dem
Vorfall schrieb ein Journalist der deutschen Ausgabe des Vice-Magazins auf Twitter, dass sie für den Tag einen Bericht über die Hygiene-Demo in Berlin geplant, nach dem Angriff auf das ZDF-Team aber davon abgesehen hätten, dort zu filmen. „Das Risiko schien uns zu hoch.“
Auch am Rande von Versammlungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai
kam es zu Gewalt gegen Medienschaffende. Wie die Berliner Polizei mitteilte, soll eine Journalistin in Kreuzberg durch einen Polizisten mit einem Faustschlag im Gesicht verletzt worden sein. Es werde nun wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Dem Tagesspiegel und der taz erzählte die 22-Jährige, die für eine
Nachrichtenagentur für Fernsehbilder arbeitet, dass der Schlag aus ihrer Sicht „gezielt“ gewesen sei. Zudem soll sie unter
anderem mit einer Mikrofonangel ausgestattet und damit klar als Teil des Filmteams erkennbar gewesen
sein.
Bei einer Versammlung am 1. Mai in Hamburg wurde ein Kameramann der Foto- und Videoagentur Blaulicht News mit einer Flasche beworfen und am Kopf verletzt. Die mutmaßliche
Täterin konnte zunächst fliehen, wurde aber wegen gefährlicher Körperverletzung angezeigt.
In einer jüngst veröffentlichten Studie gaben rund 60 Prozent der 322 befragten Journalistinnen und Journalisten an, in den
vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal angegriffen worden zu
sein. Unter Angriffen versteht die Studie alle Arten von hasserfüllten Reaktionen,
die Medienschaffende in ihrem Berufsalltag erleben – von Beleidigungen über Anfeindungen bis hin zu Aufrufen zu Gewalt oder Straftaten. Die Studie „Hass und Angriffe auf Medienschaffende“ wurde vom
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem Mediendienst Integration erstellt. Sie ist nach eigenen Angaben nicht repräsentativ
für alle Medienschaffende in Deutschland, erlaube aber ausführliche Einblick in ihren Arbeitsalltag.
Die jüngsten Angriffe werden auch in die von RSF ermittelte Statistik zu Übergriffen gegen
Medienschaffende in Deutschland einfließen, die RSF jedes Jahr veröffentlicht. Im vergangenen Jahr ist die Zahl mit mindestens 13 tätlichen Angriffen im Vergleich zum Vorjahr (22) deutlich gesunken –
vor allem deshalb, weil es 2019 keine rechtspopulistischen Proteste von vergleichbarer Dimension wie im Spätsommer 2018 in Chemnitz und Köthen gab. Nachdem RSF im Jahr 2015 noch 39 Übergriffe gezählt
hatte, war die Zahl 2016 und 2017 auf unter 20 zurückgegangen. Dass die Zahl gesunken war, lag vor allem daran, dass weniger Demonstrationen und Protestkundgebungen stattfanden, bei denen
Journalistinnen und Journalisten pauschal als Vertreter der „Lügenpresse“ verunglimpft und zur Zielscheibe von Aggressionen und Gewalt wurden.
Neben tätlichen Angriffen gegen Medienschaffende wurden
Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen Wochen offenbar bedroht und in ihrer Arbeit eingeschränkt. Vergangene Woche berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), dass
der Staatsschutz wegen rechtsextremer
Drohbriefe ermittelt. Die Morddrohungen richten sich demnach gegen Journalistinnen
und Journalisten, Politiker und Staatsanwältinnen. Die wortgleichen Schreiben wurden laut RND Ende April unter anderem an neun Redaktionen
geschickt, tragen als Absender das in der Vergangenheit durch ähnliche Morddrohungen aufgefallene sogenannte Staatsstreichorchester und sind mit „Sieg Heil“ und „Heil Hitler“ unterschrieben. Laut dem
Bericht steht in den Drohbriefen auch, man habe ausreichend Munition, um jeden der Adressaten zu liquidieren.
Anfang April beklagte die freie Journalistin Lotte Laloire, sie sei beim Dokumentieren
eines Polizeieinsatzes auf einer nicht erlaubten Demo des Bündnisses „Seebrücke“ in Frankfurt am Main an der Arbeit gehindert, von der Polizei brutal abgeführt und dabei
verletzt worden. Auf Twitter dokumentierte sie
ihre Verletzungen am Arm. Die Polizei Frankfurt wirft ihr laut
Medienberichten vor, eine Polizeiabsperrung missachtet zu haben. Auf Twitter schreibt
die Journalistin zudem, dass weitere vor Ort berichtende Medienschaffende von der Polizei in ihrer Arbeit eingeschränkt worden
seien.
Am gleichen Tag organisierten Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Brandenburger Tor in Berlin trotz Demonstrationsverbot
eine Solidaritätsaktion für Flüchtlinge. Laut einem taz-Bericht nahm die Polizei
die Daten einiger anwesender Fotografinnen und Fotografen auf. Bei
mindestens einem soll sich ein Beamter kurz darauf entschuldigt haben.
In München hatten Anfang Mai mehrere Menschen gegen die Corona-Regelungen
protestiert. Auf Twitter schrieb eine Fotojournalistin, sie und ein Kollege seien
bei einer Kundgebung von zwei Männern bedrängt und beleidigt worden. Auch in
Leipzig gingen Demonstrantinnen und Demonstranten gegen Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße. Der freie Journalist Henrik Merker berichtete vergangene Woche auf
Twitter, in einer lokalen Chat-Gruppe von Organisatoren und Teilnehmerinnen seien Fotos von ihm verbreitet worden. Zuvor sei bereits ein
Demonstrant mit den Worten auf ihn zugegangen, er habe Bilder von ihm.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verändern die
Bedingungen journalistischer Arbeit auch in Deutschland drastisch. Kontaktverbote und faktische Ausgangssperren erschweren Interviews, Recherchen und Drehs vor Ort. Viele Pressekonferenzen finden nur
noch virtuell statt. Forderungen nach der Nutzung von Handy-Ortungsdaten wecken Sorgen vor neuen Formen der Datensammlung und Überwachung, die den journalistischen Quellenschutz gefährden könnten.
Hinzu kommt, dass Bund, Länder und Kommunen mit immer neuen Corona-Notverordnungen eine Vielzahl an Regularien geschaffen haben. Reporter ohne Grenzen hat die relevanten Gesetze, Verordnungen und
Verfügungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Pressefreiheit durchgesehen und das Ergebnis in einer laufend aktualisierten Tabelle
zusammengestellt.
Einen ausführlichen Bericht zur Lage der Journalistinnen und Journalisten vor Ort hat Reporter ohne Grenzen Ende April
veröffentlicht. In der „Nahaufnahme Deutschland“ dokumentiert die Organisation
detailliert strukturelle Mängel, die für die Presse- und Informationsfreiheit im Land bedrohlich sind, aber auch positive Entwicklungen. Erfreulich ist etwa, dass unter anderem die Polizei in Sachsen
und anderen Bundesländern 2019 in eine transparente Fehleranalyse eingestiegen ist und das Thema Rechte von Medien und Freiheit der Berichterstattung verstärkt in der Aus- und Fortbildungsarbeit
thematisiert.
Auf der Rangliste der
Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz 11 von 180 Staaten. Mehr zur Situation für Journalistinnen und
Journalisten in Deutschland finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/deutschland.