Wenn es gegenwärtig eine gesellschaftliche Grundbefindlichkeit gibt, dann ist es die Verlassenheit. In solchen Zeiten haben Ideologen und Apokalyptiker Hochkonjunktur. Doch der verlassene Jesus am Kreuz hält eine andere Botschaft bereit.
Sein Kreuz tragen. Sein Kreuz haben. Sich ein Kreuz auf den Hals laden. Zu Kreuze kriechen. So angeblich agnostisch – oder atheistisch – unsere Zeiten auch sein mögen, in der Umgangssprache hat sich die Erinnerung an ein kulturelles Trauma erhalten. Was hat es mit dem christlichen Kreuz auf sich? Was ist die Crux mit dem Kreuz, was hat es uns heute – ausgerechnet heute – zu sagen?
Jesus wird ans Kreuz genagelt und stirbt im Jahre 30 im Alter von 33 Jahren einen bitteren Tod. Sein Verbrechen: Er soll der Messias sein, von dessen Kommen die jüdischen Schriftgelehrten gekündet haben. Der falsche Freund Judas verrät Jesus, der feige Jünger Petrus verleugnet ihn, Pontius Pilatus treibt ein fieses Spiel mit ihm. Der römische Statthalter in Judäa stellt sich vor die aufgebrachte Menge und fragt, ob er Jesus oder den anderen Verbrecher, Barabbas, begnadigen soll. Das Volk kocht und fordert ebenso wie die schriftgelehrte Elite die Kreuzigung Jesu. Da schrien sie wieder und wieder: Kreuzige ihn! Pilatus aber sagt zu ihnen: Was hat er Böses getan? Da schrien sie noch lauter: Kreuzige ihn (Mk 15,14).
Dieses Kreuz nimmt Jesus auf sich. Er lässt sich widerstandslos gefangen nehmen und von allen verspotten, den hohen Priestern, den Soldaten, zuletzt sogar von den Räubern, die rechts und links von ihm in Golgatha am Kreuz hängen. Die beiden – oder nach dem Lukasevangelium jedenfalls einer von ihnen – stellen ihn als Bluffer hin, sie weiden sich im Augenblick ihres eigenen Sterbens an seiner Selbstüberschätzung, Gottes Sohn zu sein: «Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.» (Mk 15,31 und Lk 23,39)
Dann kommt – nach Markus und Matthäus – das grosse Finale, das zugleich ein Fanal ist. Es mutet wie eine Zäsur an, weil nun die Erlösungsgeschichte plötzlich ins Stocken kommt: «Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.» (Mk 15,34). Nachdem er einen letzten lauten Schrei ausstösst, stirbt der Gekreuzigte.
Natürlich lässt sich Jesu Verlassenheit so deuten, wie dies Pfarrer in ihren Sonntagspredigten gerne tun: Zum Glauben gehört nun mal der Zweifel – wer nie gezweifelt hat, kann sich seines Glaubens nicht sicher sein. Damit tut man bestimmt niemandem weh. Solche Deutungen vom «Wort des Kreuzes» verstellen jedoch den Blick für das eigentliche Skandalon der Grenzerfahrung am Karfreitag.
Anders sieht es Paulus, der von einer «Torheit» für die Weisen und einem «Ärgernis» für die Frommen spricht. Damit weist der erste christliche Theologe darauf hin, dass die Vernunft des Menschen angesichts des Geschehenen erst einmal versagt. Wie soll man es ertragen, dass Gott sich gerade da dem Menschen zuneigt, wo dieser sich von ihm gänzlich verlassen fühlt? Dass er gerade da gegenwärtig sein soll, wo er gänzlich abwesend ist? Was ist das für ein Schöpfer, der sich nur verhüllt zeigt und den Menschen keine Möglichkeit lässt, sich seine Gunst zu verdienen?
Der grosse Zürcher Theologe Emil Brunner nennt das Evangelium einmal «einen Angriff auf den Menschen, der sich selbst Mittelpunkt ist». Die Urszene von Gottes Sohn am Kreuz zielt darauf ab, die urmenschliche Egozentrik aufzubrechen. Sie soll den Menschen von seinem «Ichwahn» (Brunner) befreien und ihm dadurch zu neuer Statur verhelfen. Der Kreuzestod ist Gottes Aufforderung an die Menschen, ihren Vernunftstolz und ihre wohlfeile Selbstgerechtigkeit abzulegen.
Der Mensch ist ein erlösungsbedürftiges Wesen. Und es kann sich nicht selber erlösen. Es verzweifelt an sich, wenn es versucht, bloss aus und durch sich selbst zu leben. Zwischen Gott und Mensch klafft ein unüberwindbarer Riss, der nur durch Gott gekittet werden kann. Oder anders gesagt: der Mensch ist als Du angesprochen, noch bevor er sich zum Ich formt, und er kann nur sinnvoll leben, indem er sich an ein Du wendet.
Das wirkt unzeitgemäss, denn es heisst nichts anderes als: Das von sich eingenommene Ich, das Mass aller Dinge, das Realste überhaupt, ist im Grunde eine Konstruktion, ein Fake. Es stilisiert sich selber und drapiert sich mit allerlei Idealen, um sich keine Blösse zu geben. Doch je mehr es sich hinter seinem Panzer verschanzt, desto verletzlicher wird es. Es kann seine Leere nicht kaschieren – am wenigsten vor sich selbst.
Will der Mensch sein Fake aufrechterhalten, hat er zwei Möglichkeiten. In Emil Brunners überaus moderner Diktion: Er kann «sich selbst phantastisch steigern, sich zum Gott aufblasen oder das leere Ich sozusagen mit Weltstoff ausfüllen». Doch weder Ich-Kult noch Hedonismus lassen ihn jemals zur Ruhe kommen – er schwankt hinter seinem Panzer unaufhörlich zwischen Selbsterhöhung und Selbstverachtung, zwischen mystischer Selbstversenkung und Zynismus. Das eingemauerte isolierte Ich – Luther nannte es «cor incurvatum in se», das in sich gekrümmte Herz – verzweifelt so irgendwann an sich selbst. Die Verlassenheit, wie sie Jesus am Kreuz durchlebte, wird zu seiner zweiten Natur.
Es war Hannah Arendt, die im 20. Jahrhundert lange und gründlich über diese menschliche Grundbefindlichkeit nachdachte. Echte, tiefe Verlassenheit ereignet sich nach ihr nicht da, wo der Mensch einfach einsam ist – auch in der Einsamkeit wendet er sich im inneren Gespräch an ein Du, denkt in einem fort und bleibt den Mitmenschen verbunden. Der wirklich Verlassene hingegen verstummt, die Leere in seinem Innern wächst. Er begegnet auf der Strasse zwar noch anderen, aber er nimmt sie nicht mehr als ein mögliches Gegenüber wahr. Arendt schreibt einmal: «In diesem Zwielicht, in dem niemand mehr weiss, wer einer ist, fühlen Menschen sich fremd, nicht nur in der Welt, sondern auch untereinander.»
Die Verlassenheit ist grausam, sie entfremdet den Menschen von allem, was ihm lieb ist – die Welt wird für den Verlassenen zum Nichtort, an dem überall Gefahr lauert. Sie führt zu jener Vereinzelung, die nicht die Extremform, sondern das Gegenteil eines richtig verstandenen Individualismus darstellt: Der Einzelne handelt nicht mehr aus eigener Kraft, er reagiert bloss, er ist nicht selbstbewusster Akteur, sondern gefühltes Opfer. In ihrem Opus magnum «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» beschreibt die deutsch-amerikanische Philosophin, was die Verlassenheit mit den Menschen macht. Alle sind auf sich selbst zurückgeworfen, ein grosses Misstrauen greift um sich, und irgendwann kippt die Atomisierung in neue Arten des Kollektivismus.
Jeder Einzelne schnappt dann nach jenem Ismus, der ihm Halt verspricht, und der teilt die Welt in Gut und Böse ein. Gut ist, wer denselben Ismus teilt, mit allen Glaubenssätzen und Feindbildern, die zum Dogma gehören; als böse muss gelten, wer sich zu einem anderen Ismus-Stamm bekennt, vom Nationalismus über den Genderismus bis hin zum Ökologismus. An die Stelle von unterschiedlichen Erfahrungen einer gemeinsamen Welt treten ideologische Bekenntnisse und der Selbstbestätigungswahn, in Arendts Worten: die «rücksichtslose Ausschaltung aller Erfahrungen und allen Denkens, das von sich aus irgendwo von neuem zu erfahren und zu denken anhebt».
Manch einem mag diese Kondition heute als bekannt vorkommen. Wer spürt nicht die Feindseligkeit, die im Öffentlichen und Privaten wächst? Die Zahl der Einzelhaushalte nimmt auf der ganzen Welt zu, mittlerweile haben die meisten Erdenbürger ihren eigenen Touchscreen, auf den sie die ganze Zeit starren und über den sie noch mit Gleichgesinnten verbunden sind. Doch sind es nicht die sozialen Netzwerke, die die Menschen in die Vereinzelung treiben. Es sind die vereinzelten Menschen, die nach solchen Netzwerken dürsten.
Das Ich ist so verletzlich, dass es sich nicht mehr aus der Deckung wagt und sich einsperrt in seine «Burg» (Brunner), in seine «Isolierzelle» (Arendt). Für Arendt bergen Zeiten der allgemeinen Verlassenheit das Risiko, zu «Zeiten des Untergangs, des Verfalls und der politischen Korruption» zu werden. Es mangelt ja in der Tat nicht an Berufspessimisten und Apokalyptikern, die eine grosse Katastrophe geradezu herbeischwatzen.
Doch wenn uns der Karfreitag hier eine Lektion bereithält, dann diese: Der Tiefpunkt ist zugleich der Wendepunkt, ja womöglich der eigentliche verborgene Höhepunkt. Die Vereinzelten und Verlassenen schreien geradezu nach Gesprächen aufgrund geteilter Erfahrung und – ja – auch nach echtem Streit aufgrund gemeinsamen Denkens.
Es wäre an der Zeit, auf die Schreie zu hören und sein eigenes Kreuz auf sich zu nehmen. Erkenne, dass du gemeint bist – und sprich nicht zu dir selbst, sondern zu den anderen. Dazu braucht es Mut und Durchhaltevermögen. Leg den eigenen Panzer ab – und demonstriere gerade dadurch echte Stärke.
René Scheu 19.4.2019