Wer schwerstkrank ist, Schmerzen und den Tod vor Augen hat, will sein Leben mitunter selbst beenden. In der Schweiz gibt es Sterbevereine, die beim Freitod assistieren. Soweit ist man in Deutschland nicht.
Das Bundesverfassungsgericht drängt aber auf neue Regeln.
Hirntumor. Erica Tanner ist 60 Jahre alt, als die Diagnose ihre Welt aus den Angeln hebt. "Es war eine Zäsur in meinem Leben", sagt sie. Plötzlich rücken Sterben und Tod, aber auch die verbleibende Lebenszeit ganz nah ins Bewusstsein. Der Tumor stellt sich später als gutartig heraus. Für Tanner fühlt es sich an, als hätte man ihr ein zweites Leben geschenkt. Das nutzt sie nun auch, um schwer kranken Menschen, die sterben möchten, in der Stunde ihres selbst gewählten Todes beizustehen. Tanner ist Sterbebegleiterin beim Verein Exit in der Schweiz. Dessen Mitarbeiter assistieren Menschen, die Suizid begehen. Ein Verfahren, das nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch in Deutschland möglich werden könnte. Doch es gibt Bedenken.
"Jeder Mensch will leben, nicht sterben. Aber er will nicht leiden", sagt Tanner. Die studierte Psychologin steht nach eigenen Angaben Menschen bei, die in der Endphase ihres Lebens sind und ihr Leiden nicht mehr ertragen können. Bevor die 68-Jährige eingeschaltet wird, hat der Patient einen langen Prozess hinter sich und die erforderlichen Unterlagen beisammen. Dazu gehören ein aktuelles ärztliches Diagnoseschreiben sowie die Bestätigung der Urteilsfähigkeit durch einen Arzt.
"Die Begegnungen sind sehr intensiv und berührend", sagt Tanner mit Blick auf die Sterbenden und deren Familien. So unterstützt sie zum Beispiel Menschen, die alles vorbereiten, damit sie später den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen können. Sie steht schwer Kranken bei, die nur noch wenige Wochen oder Monate zu leben haben. "Wir müssen ganz genau hören und schauen, ob derjenige in seinem Sterbewunsch gefestigt ist", sagt sie. Dazu gehört der Dialog mit den Angehörigen. Der Prozess bis hin zum Tod müsse für alle erträglich sein. Je nachdem wie lange die Begleitung dauert, entstünden mitunter intensive Beziehungen zu den Sterbenden und ihren Angehörigen. Tanners Aufgabe sei es, fokussiert und präsent zu sein. Zu hören und spüren: Was braucht dieser Mensch?
Der Patient muss selbst die Tat vollziehen
Wenn die Todesstunde kommt, wird das tödliche Medikament aufgelöst. Der Patient muss das Glas selbst halten und trinken. Hat er Schluckbeschwerden, legt eine medizinische Fachkraft eine Infusion. "Die sterbewillige Person muss die Infusion aber selbst öffnen können", sagt Tanner. Bevor sie das Mittel verabreicht, fragt sie ein letztes Mal: "Möchten Sie das wirklich? Der Mensch entscheidet autonom. Niemand darf Druck ausüben."
Hinterher stellt ein Arzt den Tod fest. Da es sich nicht um einen natürlichen Tod handele, seien Polizei und Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen involviert. Diese prüften die Unterlagen, in denen beispielsweise die Diagnose und insbesondere die Urteilsfähigkeit klar beschrieben sein müssen. Erst dann kommt der Bestatter.
Selbstbestimmtes Sterben - ist das ein Grundrecht? Ja, sagte das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Wochen. Das seit 2015 geltende Verbot auf geschäftsmäßige Sterbehilfe verstoße gegen dieses Recht. Es höhle die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung aus.
Bischof: Druck auf Alte und Kranke nimmt zu
Kritik übt Bischof Gebhard Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Das Urteil erhöhe "den inneren und äußeren Druck auf Alte, Schwerkranke und Pflegebedürftige, von der Option der geschäftsmäßigen Sterbehilfe Gebrauch zu machen, um keine Last für die Angehörigen zu sein". Einen Abschied in Würde zu ermöglichen, bedeute aus christlicher Sicht, an der Hand eines Menschen zu sterben - und nicht durch sie.
In der Region begleiten Mitarbeiter von Hospizdiensten Sterbende. "Ich bin ein gläubiger Mensch. Wir haben kein Recht, unser Leben selbst zu beenden", meint Erika Ballmann-Hellstern (67) aus Brackenheim. Sie engagiert sich seit mehr als fünf Jahren ehrenamtlich im Hospizdienst der Diakoniestation Brackenheim-Güglingen. "Wir begleiten das Leben am Ende", sagt sie. Sie selbst habe früher Angst vor dem Tod gehabt, Angst vor dem Sterben. Dies ändert sich, als sie ihre eigene Mutter beim Sterben begleitet. Diese sei auf eigenen Wunsch zu Hause im Kreis der Familie friedlich eingeschlafen, nachdem eine medizinische Weiterbehandlung aussichtslos gewesen sei. "Diese Erfahrung hat mir die eigenen Ängste genommen."
Kranke wollen niemandem zur Last fallen
Hans Göggelmann (70) arbeitet ebenfalls ehrenamtlich im Hospizdienst. "Ich denke, dass Menschen in der letzten Phase annehmen, sie seien eine Belastung für die anderen", sagt der Nordheimer. Ein alter Mann habe ihm gegenüber einmal geäußert, er würde am liebsten in die Schweiz gehen, um sein Leben vorzeitig zu beenden. "Ich bin doch nur eine Belastung, hat er gesagt", erzählt Göggelmann. Er habe ihn gefragt, was seine Ehefrau und die Kinder sagen würden. Über diesen Perspektivwechsel seien sie ins Gespräch gekommen. Für sterbende Menschen und deren Angehörigen da sein, mit ihnen sprechen, zuhören, was ihre Wünsche sind, sich selbst dabei stark zurücknehmen - darin sehen Ballmann-Hellstern und Göggelmann ihre Aufgabe.
Tödliches Medikament in Deutschland nicht erhältlich
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber klären, wie Sterbehilfe in Deutschland künftig reguliert wird. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kündigt an, "eine verfassungsgerechte Lösung zu finden mit Blick auf Beratungspflichten, Wartefristen, und den Umstand, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit des Sterbewillens gestellt werden können".
Der Jurist Dieter Graefe vertritt den Verein Dignitas mit Sitz in Hannover. Dieser unterstützt seine Mitglieder bei Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und berät in Fragen, die sich auf die indirekte und passive Sterbehilfe beziehen. Ein Knackpunkt auch nach dem Richterspruch: Das tödliche Sterbemedikament ist in Deutschland nicht zulässig und nicht erhältlich. "Im Augenblick versuchen wir ein Ersatz-Mittel zu finden", sagt Graefe. Strittig ist, ob der Staat ein solches Medikament zur Verfügung stellen muss. Dazu läuft ein weiteres separates Gerichtsverfahren.
Heike Kinkopf ist Redakteurin im Reporterteam der Heilbronner Stimme. Diese Einheit berichtet über das tagesaktuelle Geschehen in der Region und kümmert sich um investigative Recherchen.
Quelle: Heilbronner Stimme