In bestimmten Berufsgruppen konnte es in der DDR unmöglich Pädophile geben. Um dieses Saubermann-Image aufrecht zu halten, wurden Akten und Statistiken manipuliert. Statt Täter zu verfolgen, wurde so erst der systematische Kindesmissbrauch möglich gemacht, wie eine neue Studie zeigt.
Von Oliver Noffke
Tausende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wurden in DDR-Erziehungsheimen Opfer von sexuellem Missbrauch durch Erzieher - Verbrechen, für die viele der Täter keine Strafverfolgung fürchten mussten. Zu dieser erschütternden Einschätzung kommt die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. In einer neuen Studie kommt die Kommission außerdem zu dem Schluss, dass Kindesmissbrauch in diesen Einrichtungen systematisch von den Strafverfolgungsbehörden vertuscht worden ist.
"Ich denke, dass diese Vertuschungen mit diesem Saubermann-Image zusammenhängen, das sich die DDR selbst gegeben hat", sagte der Politikwissenschaftler Christoph Sachse rbb|24 am Samstag. "Der Sozialismus sollte ja auch moralisch überlegen sein", sagte Sachse, der an der Studie mitgearbeitet hat. "Offiziell gab es nur wenige Verbrechen, bei der Ehe war alles in Ordnung, es gab offiziell weniger Scheidungen. Und so war eben auch bei der Sexualität alles in Ordnung."
Für die nun veröffentlichte Studie wurden über 100 Verfahrensakten detailliert ausgewertet. Sie spiegeln allerdings nur einen Bruchteil der tatsächlichen Verbrechen dar. Es gebe aber Tausende weiterer solcher Verfahrensakten, so Sachse.
In der Studie werden auch extreme Beispiele von Kindesmissbrauch genannt. So hätten die Erzieher in einem sächsischen Kinderheim Mädchen geradezu wettbewerbsmäßig missbraucht. Die Studie spricht an dieser Stelle von einem "sexuellen Terrorregime". Um sich dem zu entziehen, hätten viele der Missbrauchsopfer Suizid begangen. Die Studie geht auch auf Vorgänge in einer Jugendstrafanstalt in Wriezen (Märkisch-Oderland) ein. Dort habe ein Machtsystem geherrscht, bei dem ältere Kinder Druck auf Schwächere ausübten. Statt einzugreifen, hätten die Erzieher diesen Zustand zum Kindesmissbrauch genutzt.
An anderer Stelle zeigen die Wissenschaftler auf, wie traumatisch die juristische Aufarbeitung für die Opfer sein konnte - so etwa am Beispiel eines elfjährigen Jungens, der von einem Erzieher vergewaltigt worden war. Über mehrere Jahre hinweg wurde das Kind immer wieder von Ermittlern zu den Vorgängen befragt, teilweise ohne das seine Erziehungsberechtigten anwesend waren. Der Täter, der an einer neurologischen Krankheit litt, wurde schlussendlich zwar zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, musste diese aber nicht antreten, nachdem er einen Antrag auf Strafaussetzung gestellt hatte.
Offenbar ignorierte die DDR-Justiz sogar, dass Pädagogen im Staatsdienst überhaupt Täter sein konnten. Der 3. Strafsenat des Obersten Gerichtes fertigte im Jahr 1984 eine Einschätzung zu Opfer-Täter-Verhältnissen bei Fällen von Kindesmissbrauch an. Auf Grundlage von 32 Fällen kamen die Beamten zu der Einschätzung, dass, wenn die Opfer ihre Täter kannten, es sich um Menschen "aus Verwandtschaft, Freundeskreis oder Bekanntenkreis" handelte. Erzieher oder Lehrer werden hingegen nicht genannt.
Zudem gab es in der DDR eine Reihe ausgeklügelter Verfahren, mit denen sichergestellt wurde, dass es in bestimmten Berufsgruppen offiziell überhaupt keine Täter gab. Wenn etwa Angehörige von Staatssicherheit, Armee oder Polizei in Missbrauchsvorwürfe verstrickt waren, übernahm oft die Stasi die Ermittlungen.
Die offiziellen Statistiken konnten auch auf andere Art rein gehalten werden, sagt Sachse: "So wurden Mitarbeiter von Polizei und MfS entlassen, bevor es zu einer Anklage kam. Wenn bei einem Gerichtsprozess gefragt wurde, welchen Beruf sie gelernt hatten, mussten sie dann sagen, Schlosser oder so etwas, aber eben nicht mehr Polizist."
In Brandenburg Aktuell beklagte Sachse, dass es bei Themen über DDR-Unrecht eine regelrechte Aufarbeitungsmüdigkeit gebe. Sieben Jahre habe es gedauert, bis Geld zur Finanzierung der nun abgeschlossenen Pilotstudie bereitgestellt worden sei. Er sei konfrontiert worden mit Aussagen wie "Noch eine neue Opfergruppe" und "Jetzt kommt schon wieder jemand, der uns die DDR madig machen will", sagte Sachse. Und weiter: "Diese Müdigkeit, noch eine neue schreckliche Seite der Diktatur erfahren zu müssen, geht bis in die politische Kaste hinein."
Opfer von Missbrauch in DDR-Jugendeinrichtungen können sich auch heute noch an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs wenden. Zwar sei es oft zu spät, um die Täter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, sagt Sachse. Dennoch sei es wichtig, das Unrecht zu dokumentieren.
Beitrag von Oliver Noffke
Über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR, in Heimen sowie im familiären Umfeld ist vor 2010 nichts an die
Öffentlichkeit gelangt. Ich erinnere mich gut, wie mir, der damaligen Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Betroffene erstmals berichteten, was sie in DDR-Heimen an
körperlichen Misshandlungen, an Demütigungen und sexuellem Missbrauch erlitten haben und unter welchen gesundheitlichen und sozialen Folgen sie noch heute leiden. Um die Anerkennung des Unrechts, das
sie erfahren haben, kämpfen viele der Betroffenen noch heute ebenso wie um Hilfen zur Verbesserung ihrer Situation. Auf Grund dieser Erfahrungen wurde bereits 2011 Aufklärung und Aufarbeitung des
Missbrauchs und der Misshandlungen von DDRHeimkindern als dringend notwendig empfohlen, zumal deren Schicksal am Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ keinen Eingang gefunden
hatte. Erst 2016 wurde die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs eingesetzt. Der Deutsche Bundestag benannte die Aufarbeitung von Missbrauch in Kinderheimen und
Jugendwerkhöfen der DDR ausdrücklich als eine wichtige Aufgabe der Kommission. In den ersten vertraulichen Anhörungen von Betroffenen hörte die Kommission erschütternde Berichte über Missbrauch
sowohl in den Heimen und Jugendwerkhöfen als auch im familiären Bereich. Die intensiven Gespräche zeigten aber auch sehr deutlich, dass für die Aufarbeitung Hintergrundwissen über das
staatlich-repressive DDR-Erziehungssystem und das politische Umfeld notwendig ist - nicht nur für Personen, die nicht in der DDR aufgewachsen sind. Nur so kann die Dimension des Unrechts an den
Kindern und Jugendlichen erfasst werden. Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern. Sexueller
Kindesmissbrauch war in der DDR ein Politikum. Es wurde weder privat noch öffentlich über Kindesmissbrauch oder über einen Aufenthalt im Jugendwerkhof gesprochen. Und dieses lange Schweigen wirkt
nach. Betroffene erzählen noch heute, dass sie nicht über einen Heimaufenthalt reden können und schon gar nicht über erlebten Missbrauch, sie fühlen sich noch immer stigmatisiert. Die vorliegende
Expertise wurde von der Kommission in Auftrag gegeben. Sie liefert wertvolle Kenntnisse, die auf aufwändigen Recherchen in einschlägigen Archiven und der Auswertung von unter Verschluss gehaltenen
Studien der DDR über den Umgang des Staates mit sexuellem Kindesmissbrauch beruhen. Zusammen mit der juristischen Einordnung und den eindringlichen Geschichten aus der Beratung zeichnet die Expertise
ein bedrückendes Bild über ein doppeltes Unrecht – den Missbrauch der Kinder und Jugendlichen und die Verweigerung der Anerkennung dieses Unrechts und von Hilfen über Jahrzehnte. Unser Dank
gilt allen, die unter großem Zeitdruck und mit außergewöhnlichem Engagement diese Expertise erarbeitet haben, die nicht nur für die Arbeit der Kommission wichtige Daten liefert. Sie dient dazu, der
Gesellschaft Wissen zu vermitteln über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der DDR und die politisch-ideologischen Hintergründe. Betroffene möchten ohne Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung über
das Erlebte sprechen können. Das ist die Botschaft, die sie uns in den Anhörungen immer wieder vermitteln.
Ich hoffe und erwarte, dass die Expertise den Auftakt bildet für weitere umfassende Aufklärungsprojekte zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der DDR. Und ich wünsche mir, dass die
Erkenntnisse der Studie wie auch die Ergebnisse der Aufarbeitungskommission eine breite Öffentlichkeit erreichen. Unrecht muss benannt und anerkannt werden. Wir sind es den Betroffenen, die den Mut
hatten und haben, das Schweigen zu brechen und den vielen, die im Verborgenen bleiben, schuldig.
Dr. Christine Bergmann Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
Opfer in aller Welt haben sich daran gewöhnt, sich in Geduld zu üben. Das ist für die Opfer sexueller Gewalt nicht anders. Für die
Gesellschaft ist die Geduld der Opfer jedoch kein Freibrief zur Untätigkeit. Dies gilt umso mehr, wenn die Zeit des Schweigens bereits ein Viertel Jahrhundert überschritten hat. Die Verantwortlichen
der SED-Diktatur haben alles getan, ihr Land als „Staat der Jugend“ erscheinen zu lassen, der sich rührend um das Wohl der Kinder sorgte. Verschwiegen wurden die Schattenseiten menschlichen
Zusammenlebens, die in jeder Gesellschaft auftreten. Vorwerfen kann man der SED-Diktatur nicht, dass es sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab. Aktiv verhindert wurde aber die
öffentliche Wahrnehmung des Missbrauchs durch die Apparate des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), von Justiz, Jugendhilfe und Volksbildung. Jeder aufgedeckte Fall wurde von Maßnahmen begleitet,
die verhinderten, dass eine informierte Öffentlichkeit sich der Probleme bewusst wurde. Es ist eine traurige Tatsache, dass jeder Missbrauch, der nicht aufgedeckt oder gar vertuscht wurde, dem Täter
die Gelegenheit zu neuen Missbräuchen gegeben hat. Aufklärung und Aufarbeitung derartiger Taten sind also kein Luxus, den sich eine reiche und an ihrer Historie interessierte Gesellschaft leistet.
Sie sind ein unverzichtbarer Beitrag zur Prävention. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) im
November 2016 mit der Aufgabe betraut, erste Erkenntnisse über den Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in der DDR zusammenzutragen. Entstanden ist auftragsgemäß eine dreiteilige Studie. Christian
Sachse (UOKG) beleuchtet anhand von Dokumenten den historischen Kontext, die inoffiziellen Zahlen und den Umgang des Staates mit dem sexuellen Missbrauch. Benjamin Baumgart (UOKG) erläutert die
Besonderheiten in den Rechtstexten und Verfahren. Stefanie Knorr (Beratungsstelle Gegenwind) bezieht sich in ihrer Darstellung auf die pädagogischen und psychologischen Veröffentlichungen und
Archivdaten und nimmt die Perspektive der Opfer und ihrer Familien in der damaligen und heutigen Zeit in den Blick. Hinzuzufügen ist: Ohne den Sachverstand von Sandra Czech bei den Archivrecherchen
wäre das Ausgangsmaterial wesentlich knapper gewesen. Dankbar sind wir den Mitarbeitern des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) und des Bundesarchivs für die engagierte Zuarbeit. Die
UOKG, deren Aufgabe in der Vertretung der Opfer in Politik und Öffentlichkeit besteht, begrüßt dieses Projekt als einen Beginn der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Osten Deutschlands, der in den
westlichen Bundesländern bereits viel weiter fortgeschritten ist. Vor allem im Namen der Opfer, die ihr Schicksal bis heute zu tragen haben, ist eine möglichst weitgehende Aufklärung geboten. Nur so
sind spezifizierte Angebote zur Therapie und Lebenshilfe möglich, die den Betroffenen weiterhelfen. Unbedingt nötig ist nun eine umfassende Erforschung des sexuellen Missbrauchs unter den
Rahmenbedingungen der sozialistischen Diktatur, mit der über die Täter hinaus auch Strukturen namhaft gemacht werden, die Missbrauch begünstigten und Aufklärung verhinderten.